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21. Über mehrere Jöcher


Unterhalb des St. Antönier Jochs (2.379 m) werden wir an diesem Morgen von einer Kuhherde und einigen Haflingerpferden neugierig beäugt. Doch nach einem nur kurzen Anstieg haben wir das Joch mit dem ehemaligen Zollhäuschen erreicht. Der Grenzgang führt uns heute über diverse Jöcher und Gipfel bis zum Schlappiner Joch - Grenzpunkt zwischen den Gebirgsgruppen Rätikon und Silvretta. Als Gargellner Köpfe werden die felsigen, abschüssigen Erhebungen zwischen dem St. Antönier Joch im Norden und Gafierjöchle im Süden in den Karten ausgewiesen. Die Überschreitung erfolgt ohne Ostgipfel (2.482 m), auf welchen seit 2009 ein kurzer, aber dennoch reizvoller Klettersteig mit der Bezeichnung „Schmugglersteig“ führt, welcher in der anspruchsvolleren Variante mit zwei langen Seilbrücken und einer knackigen Schlüsselstelle aufwartet. Unsere Route über die Köpfe verläuft meist unmittelbar dem Grat folgend und erfordert vor allem im Bereich des felsigen höchsten Punktes (2.559 m) die Bewältigung einiger Kletterstellen.

Nach Erreichen des Gafierjöchle (2.415 m) bietet sich erneut ein beeindruckender Blick zur Madrisa, dem mächtigen Bergklotz und Hausberg der Gargellner. Doch unser Ziel ist die Marchspitze (2.732 m), die über das Juonenfürkli und Madrisa Jöchle bestiegen wird. Am Gipfel der Marchspitze treffen sich der Grat der Gandataler Köpfe, das Frygebirg (Westgrat der Madrisa) sowie der Nordostgrat des Madrisahorns und bilden so einen Eckpunkt im Grenzverlauf zwischen Österreich und der Schweiz.

Der weitere Grenzverlauf über die Gandataler Köpfe zum Schlappiner Joch ist bergsteigerisch bedeu-tungslos. Ein zwar schroffer Bergkamm mit einzelnen Spitzen, jedoch über Blockfelder nur sehr müh-sam und zeitraubend zu erreichen. Demzufolge wählen wir den Abstieg auf Schweizer Seite über das Ereztälli, doch müssen wir erfahren, dass sich dies kaum einfacher darstellt. Über Blockfelder, Geröll-halden und steile Grasrinnen finden wir einen begehbaren wenn auch langwierigen Abstieg.

Schlappiner Joch - Übergang in eine neue Zeit. Als Teilstück der alten Via Valtellina wurde dieses reaktiviert und für Wanderer nutzbar gemacht. Ein Weg des Weines, der auf Säumerpfaden von Schruns im Montafon über Graubünden bis in die Lombardei führt und auf einer Strecke von ca. 150 Kilometer drei Länder, Österreich, Schweiz und Italien verbindet. Über diesen wurde schon im 16. Jahrhundert von Kornexporteuren, sogenannten Kornführern, Getreide in den Süden und auf dem Rückweg Wein aus dem Veltlin ins Montafon geliefert. Darüber hinaus war dieser Weg für den Viehtransport ins Engadin von erheblicher Bedeutung. Noch heutzutage kann die „Via Valtellina“ in Etappen begangen werden. Etappen, welche eine große kulturelle und landschaftliche Vielfalt offenbaren.

Nur schwer vorstellbar ist, unter welcher Mühsal sich Säumer und Pferde mitsamt den schweren Weinfässern übers Schlappiner Joch geschleppt haben müssen. Die Trecks bestanden zumeist aus zehn Pferden bzw. Mulis, zusätzlich einem Leitpferd und einem Reservepferd. Sowohl das vorderste als auch das hinterste Pferd trugen eine Glocke um den Hals. Bei den Tragpferden war jedes Ross mit zwei „Legla“, länglichen hölzernen Gefäßen (vom lateinischen „lagena“ = Flasche), mit jeweils 75 Liter Wein beladen. Strikt verboten war es den Säumern, meist durstige Gesellen, sich von ihrer wertvollen Fracht etwas für den eigenen Durst abzuzapfen. Sie bekamen daher für den langen und harten Weg eine Tringlegla, ein 3-Liter-Weinfass, für den Eigenbedarf zur Verfügung gestellt.

Die gesamte Wegstrecke teilten sich mehrere Saumunternehmer untereinander auf. Einer der bekanntesten war Baltasar Müller, welcher in Davos um 1800 eine „Spedition“ mit bis zu 100 Rössern betrieb. Er beschäftigte auch eigene Wegmacher, die nach Gewittern und Murenabgängen die Steige freiräumten und im Winter mit schweren Pferden zum „Schneebrechen“ ausrückten. Bevorzugt für die Transporte war die Zeit im Winter, da dann die bäuerlichen Arbeiten ruhten und genügend Pferde zur Verfügung standen. Wo immer es möglich war, wurden für den Transport auch Schlitten genutzt.

Der Warenaustausch zwischen Nord und Süd bildete eine wesentliche Grundlage für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung in den jeweiligen Regionen. Der Saumhandel florierte über Jahrhunderte. Erst als 1859 das Habsburgerreich nach einem verlorenen Krieg die Lombardei samt Veltlin an Italien abtreten musste, verloren die Saumpfade ins Montafon an Bedeutung. Hinzu kam, dass Mitte des 19. Jahrhunderts die Straßen und Bahnlinien vermehrt ausgebaut wurden. Mit dem Bau der Arlbergbahn und dessen Eröffnung 1884 erfolgten Weinlieferungen vermehrt aus Südtirol. Der mühsame und langwierige Transport aus ferneren Regionen und über die Gebirgsjöcher verlor zunehmend an Bedeutung.

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