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20. Tilisunarunde


Die Gründung des Österreichischen Alpenvereins 1862 in Wien und dessen zentralistische Haltung stieß in den westlichen Alpenländern auf Widerstand. Die Vereinsführung lehnte jede Sektionsgründung außerhalb von Wien ab. So kam es, dass zahlreiche führende österreichische Bergsteiger wie beispiels-weise Franz Senn oder Johann Stüdl mit nicht weniger rührigen Münchnern am 9. Mai 1869 in München den Deutschen Alpenverein gründeten. Noch im selben Jahr traten Vorarlberger als eigene Sektion dem DAV bei. Die Gründungsversammlung der Sektion Vorarlberg fand am 1. Dezember 1869 im „Englischen Hofe“ in Feldkirch statt. Die eigentlichen Begründer waren Otto Freiherr von Sternbach und Josef Andreas Ritter von Tschavoll. Ein Vierteljahr nach der Gründung fasste die neugegründete Sektion den erstaunlichen Beschluss, eine „Touristenhütte am Lünersee“ zu errichten (in späterer Folge Douglaßhütte). Die Bauerlaubnis mit den Alpbesitzern der Lünersee Alpe machte offenbar einige Schwierigkeiten. So wurde 1872 die erste alpine und bewirtschaftete Hütte in den Ostalpen am Lünersee gebührend eingeweiht. 1873 wurde Bludenz die Geburtsstadt des Zusammenschlusses des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (D&OeAV). Er hat seit 1873 bis 1938 als der größte Bergsteigerverein der Welt mit Hunderten von Schutzhütten und einem riesigen Netz von AV-Wegen Millionenwerte in den Alpenländern investiert. Er wurde der wahre Wegbereiter des alpenländischen Tourismus. „Die Bereisung der Alpen zu erleichtern und einen dem Lande Nutzen bringenden Tourismusverkehr zu ermöglichen …“ das haben sich die Gründerväter der Sektion Vorarlberg im Deutsch-Österreichischen Alpenverein „auf die Fahnen geschrieben“ und auch konsequent danach gehandelt. Sie haben Wege gebaut und markiert und an wichtigen Punkten Schutzhütten errichtet. 1938 wurde der Deutsche und Österreichische Alpenverein in den Deutschen Alpenverein umgewandelt. Im August 1946 wurde der Österreichische Alpenverein in seinem Rechtsstatus wiedereingesetzt.

Wir sitzen hier auf der Veranda der Tilisuna Hütte, die dritte Schutzhütte, die 1879 von der Sektion Vorarlberg nach dem Freschenhaus erbaut wurde. In der Nacht kam die erwartete Schlechtwetterphase. Da tags zuvor die Besteigung der Weißplatte zeitlich nicht mehr möglich war, ist dieser Grenzberg heute unser erstes Ziel. Beim Grubenpass, es hat zu regnen begonnen, steigen wir ostseitig über Karren-platten, Schrofen und Steilstufen entlang der Grenze zur Schweiz zum Gipfel der Weißplatte (2.630 m) hoch. Die Namen Weißplatte und Scheienfluh sprechen für sich. Die Doppelbenennung hat ihren Ursprung in ihrer zweifachen Namensgebung im Norden und im Süden. Die Montafoner nennen die ganz auffallend weißen Karrenplatten „d` Wissplatta“. Die Prättigauer nennen die Fluh „d`Scheiaflua“, weil dicht unter der Westwand des Südgipfels der „Scheienzahn“ steht, ein riesiger schlanker Felsturm.

Zurück bei der Tilisuna Hütte (2.208 m) lassen wir uns vom Hüttenwirt Helmut Fitsch, der heuer letztmalig nach 26 Jahren die Hütte bewirtschaftet, in die Kunst des „Biereinschenkens“ einführen. „Franziskaner“ sei Dank. Einen schöneren Platz hätte man sich für die Schutzhütte nicht aussuchen können. Hundert Meter über dem Tilisunasee, in einer geologisch und botanisch hoch interessanten Alpenlandschaft des Rätikons, nur vierhundert Meter nördlich von Tilisunafürkele an der Schweizer Grenze entfernt. Auch nahe dem silbergrauen Karrenfeld und höhlenreichen Jura-Kalkmassiv der Sulzfluh, die ein alpinhistorisch ältester und merkwürdigster Alpengipfel ist. Belegt ist die erste Besteigung durch den Prättigauer Pfarrherr Johann Baptista Catani und Luzius Pool im Jahr 1783.

Gestärkt und trockenen Fußes, die Wolken lichten sich, ziehen wir weiter. Zwei Stunden Marsch sind es bis zum Gipfel der Sulzfluh (2.818 m). Ein großes Erlebnis, wegen der unschlagbaren Aussicht und einer geologischen Besonderheit. Weglos geht es meist über das steinige Gelände, große Steinmännchen markieren die Richtung, dazwischen sucht sich jeder selbst den Weg. Der Steig führt in Kehren an der Südseite des Plateaus eine breite Steinschulter hinauf, über die man problemlos immer höher gelangt. Man wechselt vom Glimmerschiefer im Norden mit einem Schritt hinüber auf den schneeweißen Kalk. Am Gipfel begegnet der Normalbesucher noch einer anderen Klasse von Menschen. Da kommen sie mit Kletterhelm und Sitzgeschirr über einen Grat herauf, meist ein glückliches Lächeln auf den Lippen, die Leute, die über den Südwand-Klettersteig der Sulzfluh die lotrechten Wände hier herauf sind. Auch auf Vorarlberger Seite befindet sich ein weiterer Klettersteig – der Gauablick.

Die Sulzfluh ist auch ein bedeutendes Höhlengebiet. Als größte gilt die Apollohöhle mit einer Länge von 3.080 Metern und einen Gesamthöhenunterschied von 245 Metern. Weitere Höhlen sind die See-höhle (1.500 m) und die Kirchhöhle (800 m). Die Höhlen sind alte unterirdische Wasserwege, was man am Formenschatz leicht erkennen kann. Kristalline Gerölle aus Urgestein in der Höhle zeigen, dass sie schon sehr alt sein müssen. Heute nimmt das Wasser viel tiefere Regionen im Berg ein. Die Entwässerung erfolgt hin zu Quellen im Vorarlberger Gargellnertal fast 1.000 Meter tiefer. Bei Grabungen in der Höhle 1990-92 wurden Reste von Höhlenbären gefunden und eine große Überraschung: ein aus rotem Hornstein verfertigtes Steingerät. Damit ist erwiesen, dass mindestens einmal in der Zeit zwischen vor 80.000 und 120.000 Jahren einmal ein Mensch den Mut gehabt hat, 150 Meter tief in diese im steilen Gebirgsgelände liegende Höhle einzudringen! Auch auf der österreichischen Seite der Sulzfluh, der ja einen großen Teil des Plateaus ausmacht, sind bedeutende Höhlen gefunden worden, insbesondere die Mäanderhöhle, die nun als tiefste Höhle Westösterreichs gilt. Über steile Schächte und gewaltige Hallen führt die Höhle 369 Metern tief ins Unbekannte.

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